Tuesday, January 20, 2009

Wissenschaftliche Kaffeesatzleserei

In einem Kommentar zu einer Publikation kürzlich im Titel-Magazin schrieb Thomas Rothschild: 

"Zeitungen und Zeitschriften müssen gefüllt werden. Deshalb geben sie ständig Antworten auf Fragen, die sie sich selbst stellen. Aber die Antworten gehen über das Niveau der Kaffeesatzdeutung nicht hinaus. Tag für Tag wird als Gewissheit ausgegeben, was lediglich Vermutung, Behauptung ist. Mit Wissenschaft hat das so viel zu tun wie das Bremsgeräusch eines LKW mit Musik."

Auch ohne den Hintergrund des Artikels, die Neoliberalisierung von Altlinken, dabei zu benötigen, spricht dies ein aktuelles Problem an: Bei der Gratwanderung zwischen Arkanwissen aus dem Elfenbeinturm und Populärwissenschaft werden wissenschaftliche Erkenntnisse teils derart vulgarisiert, dass man für deren Vermittlung dann auch keine Professoren (oder -innen) mehr braucht.

Ein schönes Beispiel lieferte dafür kürzlich Professor Norbert Bolz in einem Interview in der Berliner Zeitung (hier stellte er sich die Fragen also nicht selbst). Anlässlich der Diskussion um 25 Jahre Privatfernsehen äußert er gleich zu Beginn, als hätte es weder eine konstruktivistische Medientheorie noch eine Cultural Studies Fernsehforschung je gegeben:

"Der Vorteil für den Zuschauer ist die Prämie der Passivität. Er wird nebenher berieselt, Walter Benjamin hätte das 'zerstreute Rezeption' genannt. Man bekommt als Konsument beiläufig alles mit: Was in New York los ist, wie es zwischen Männern und Frauen läuft, wie Obamas Frau aussieht. Durchs Fernsehen lernt man die Welt kennen. Der Nachteil: Fernsehen ist ein Oberflächenmedium, ohne jegliche Tiefe."

Als Walter Benjamin noch lebte, gab es schlicht noch kein Fernsehen, und es ist unglaubwürdig, dass sich nach Benjamin niemand mehr mit einem bedeutenden Beitrag zur Rezeption des Fernsehens gemeldet hätte. Als nächstes folgen dann, natürlich, Adorno und Postman:

"Der Kulturauftrag des Fernsehens ist nichts weiter als ein Phantasma."

Das kann man denken, man kann auch anderer Meinung sein, auch wenn in diesem Fall jegliches Gegenargument sofort als weltfremd abgetan werden kann. Aber was folgt, ist dann schon recht unglaublich.

"Sie [die privaten Fernsehkanäle] haben in gesundem Realismus das Wichtigste klargestellt: Es zählt nur die Quote. Hätten die öffentlich-rechtlichen Sender den Mut eines Don Quichotte besessen, und die Quote missachtet, wäre vielleicht alles anders gekommen. Sie könnten es, denn das Geld ist ja bei ihnen. Aber sie fingen sofort auch an, nach der Quote zu schielen, da ist es zwischen Privaten und Öffentlich-Rechtlichen zur Ununterscheidbarkeit gekommen. Von heute aus gesehen war das richtig, denn das Fernsehen ist nicht mehr das Leitmedium."

Abgesehen davon, dass es Menschen und nicht die Kanäle waren, die irgendwas klargestellt haben, scheint sich die Argumentation wie folgt aufzubauen: Wären die öffentlich-rechtlichen Kanäle vollkommen weltfremd gewesen und hätten sie gegen Windmühlen gekämpft, gegen also eigentlich real nicht existente Phantasmen, dann, ja dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Die Ununterscheidbarkeit zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Anstalten ist eher behauptet (bei den Sparten- bzw. Regionalkanälen liegt die Unterscheidbarkeit auf der Hand, vgl. Phoenix oder 3sat, aber auch bei den Generalisten ist doch immer noch ein Unterschied zu bemerken), wenn man eine gewisse Annäherung auch nicht einfach vom Tisch wischen kann. Zumal Bolz selbst nur einige Absätze weiter unten sagt:

"Die Öffentlich-Rechtlichen stecken in viel engeren Geschmacksgrenzen fest."

Am überraschendsten erscheint mir aber die Volte, die Bolz am Ende schlägt: Die Konvergenz des Maßstabs Quote für sowohl öffentliche als auch private Anstalten war richtig, weil das Fernsehen heute nicht mehr das Leitmedium ist? Ist es richtig, weil infolgedessen das Fernsehen seinen Status als Leitmedium verloren hat? Oder ist es richtig, weil Quote auch bei allen zukünftigen medialen Kanälen der Maßstab sein wird, auch jetzt, wo das Fernsehen nicht mehr das Leitmedium ist? Und was hat das eine mit dem anderen zu tun? You lost me there.

Danach widerspricht sich Bolz scheinbar sogar, wenn er auf die Frage 

"Hat das Privatfernsehen die Öffentlich-Rechtlichen gezwungen, ihr Profil zu schärfen?"

behauptet:

"Auf jeden Fall. Der 'Tatort' ist politisch korrekter geworden, 'Anne Will' ist schärfer als 'Christiansen' es war."

Damit hätte die Konkurrenz ja, zumindest in einigen Fällen, sogar zu einer größeren Unterscheidbarkeit geführt, denn an political correctness ein privates Programm zu messen, scheint mir in den meisten Fällen vertane Zeit.

Im Anschluss bezeichnet Bolz die Privaten auch als Trendaufspürer und Trendsetter:

"Hauptsächlich RTL hat richtige Spürnasen, die jeden Trend im Ansatz erfassen, prüfen und dann mit unternehmerischem Mut, manchmal auch Wagemut, koppeln und ins Programm nehmen."

Die Zeit schrieb über Bolz mal "Trendforscher kennen Herrn Bolz als Philosophen; Philosophen kennen ihn als Trendforscher", deswegen sollte man davon ausgehen, dass daran irgend etwas bedenkenswert ist. Stefan Niggemeier schrieb zur Verleihung des Preises "Medienfrau des Jahres 2008" an Anke Schäferkordt, Geschäftsführerin von RTL:

"Man kann den von ihr geleiteten Sender RTL zum Beispiel dafür bewundern, wie er es geschafft hat, angesichts einer sich ganz von allein zerbröselnden Konkurrenz, einfach stillzuhalten und auf eigene Ideen, Impulse und Risiken zu verzichten. [...] Und bestimmt findet man in einem Jahr, in dem die Quoten für RTL fast durchweg schlechter waren als im Vorjahr, auch eine Ausnahme, die man hervorheben kann."

Ich habe seit Jahren kein RTL geschaut, aber das klingt nicht nach Wagemut. Aber der brave Roland Mischke fragt nach:

"Meinen Sie Sendeformate wie 'Big Brother' und die 'Dschungelshow'?"

Darauf Bolz:

"Zum Beispiel. Unglaublich, dass das funktioniert hat. Echtes Leben, echte Gefühle, wahre Intimität."

Unglaublich oder nicht. Aber "echt"? Damit möchte ich nicht auf das Authentizitätsproblem hinaus, sondern lediglich die begriffliche Unschärfe von Bolz kritisieren. Das ist zwar sehr leicht lesbar, setzt sich aber der Gefahr der vollkommenen Unseriösität aus.

Ich bezweifle, dass durch eine solche Vermittlung irgendeiner der Leser eine zusätzliche Information erhalten hat. Und wenn das nach Jahrzehnten der Rezeptionsforschung in der Öffentlichkeit kommuniziert wird, dann verliert das Fach einfach seine Existenzberechtigung.

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