Friday, June 5, 2009

Internetdebatte in der ZEIT

In der Zeit entsteht so etwas wie eine Internetdebatte. Adam Soboczynski veröffentlichte einen Artikel mit dem den Inhalt widerspiegelnden Titel "Das Netz als Feind".

"Jedem, der wachen Auges durch das Internet streift, ist die antiintellektuelle Hetze in den Kommentaren vertraut, die sich gegen angeblich Sperriges richtet, gegen kühne Gedanken, gegen Bildung überhaupt. […] Nicht den Hauch einer Berechtigung hat die Hoffnung, noch auf Leser zu stoßen, die – vielleicht gar leicht verschämt – Unverstandenes als Antrieb begreifen, ihre Bildungs- und Konzentrationsdefizite zu beheben."

Hm. Was soll man da eigentlich argumentieren? Dass das vermutlich Leute sind, die den Artikel ohne Internet gar nicht gelesen hätte, weil sie für das Trägermedium kein Geld ausgegeben hätten? Dass auch normale Leser das denken, nur eben keine Feedback-Funktion haben? Dass Leser, die Bildungsdefizite bei sich feststellen, einfach sich informieren, aber eben keine Antwort schicken?

"Die meisten von Zeitungs- und Magazinverlagen geführten Internetangebote neigen mittlerweile dazu, in bislang ungeahntem Ausmaß leicht Bekömmliches dem argumentationslastigen Stück, die Nachricht der Analyse vorzuziehen."

Muss man jetzt auf die ZEIT-Webseite und vor allem auf deren Newsletter hinweisen? Auf irgendwelche Quizzes und natürlich die im Newsletter verschickten Agenturmeldungen? Auf die Banalvideos über die Zukunft der Stadt? Offenbar.

Aber dann kommt der Zaunpfahl:

"Bildungsfeindlichkeit gelangte zuletzt prägnant zur Blüte in den beiden sozialistischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Sie richteten sich gegen den störrischen, nicht restlos absorbierbaren Intellektuellen […]. Da der Intellektuelle aus der Mehrheitsdemokratie geistesaristokratisch herausragt, ist er der Einzige, der die Bedingungen der Staatsform, in der er lebt, zu reflektieren vermag. Er stabilisiert Demokratie, indem er sich ihr wesenhaft entzieht."

What? Heißt das, Soboczynski befürchtet den Frankensteinschen Fackelzug des Lynchmobs demnächst in seiner Straße?

Gero von Randow hat auf diesen Artikel in der ZEIT geantwortet. Dabei kritisiert er vor allem den von Soboczynski benutzten Begriff des "Geistesaristokraten" als Synonym und Erklärung für den Intellektuellen, indem er ausführt, dass der Intellektuelle sich aus der Deckung und auf den Markt der Meinungen begibt, um Mehrheiten für seine Intervention zu finden.

"Dass die Öffentlichkeit atomisiert werde, diese Klage wird seit einiger Zeit geführt. […] Sollte Zerstreuung an die Stelle der Versammlung treten, hätte die Demokratie tatsächlich ein Problem, […]. Doch in Wirklichkeit existiert außer dieser Tendenz ebenso gut ihr Gegenteil. Zumal im Internet. Denn [es] organisiert sich im Netz sehr wohl die intellektuelle Kritik, und zwar keineswegs bloß in »Internetrandzonen«."

Zuletzt schaltet sich Jens Jessen ein.

"Insofern profitiert die Freiheitlichkeit des Netzes nicht von seinen technischen Eigenschaften, sondern vom Zivilisationsstandard seiner sozialen Umgebung. Nicht das Internet bereitet die Demokratie der Zukunft vor, sondern die Demokratien der Gegenwart sichern dem Internet – hoffentlich! – seine Zukunft."

Nein, Herr Jessen, sowohl als auch. So wie Wahlen nur in einem freiheitlichen System funktionieren und dieses gleichzeitig perpetuieren, so ist Freiheit im Internet - bzw. in der Öffentlichkeit - zugleich Voraussetzung u n d Folge der demokratischen Grundordnung.

"Es wird im Netz nicht gern gesehen, wenn Äußerungen qualifiziert oder gar nach Würde und Sachhaltigkeit des Argumentes in eine Hierarchie gebracht werden."

Das ist natürlich nur teilweise richtig. In jedem Diskussionsforum gibt es Regeln, an die sich die Nutzer zu halten haben, man muss stets ein AGB-Formular unterzeichnen, in dem man sich damit einverstanden erklärt. Und bestimmte Angebote wie wikipedia hätten kaum einen Erfolg zu verzeichnen gehabt, würden Nutzer dieses Hierarchieprinzip nicht akzeptieren. Nur kommt es eben darauf an, von wem.

"Dieses Ideal einer unendlichen und unendlich diffus bleibenden Diskussion wäre zwar noch immer kein demokratisches, aber doch harmloses, wenn sich nicht der Eindruck aufdrängte, am Ende werde die kommerzielle Währung des Internets, die Klickrate, auch für ein denkbares Abstimmungsverfahren in geistigen Auseinandersetzungen gehalten."

Aber die kommerzielle Währung des Internets, die Klickrate, wird vom Mediensystem selbst bestimmt. Man darf daran erinnern, dass dies im Printbereich die Auflage war und dass es allein an der Unmessbarkeit der "Auflage" einzelner Artikel liegt, dass diese Klickratenökonomie nicht bereits lange gilt. Meine Vermutung ist hier eher, dass dem Leser ein Bewertungssystem angetragen wird, ohne das er genauso gut leben könnte.

Zuletzt: Wieso traut niemand dem Leser zu, was man ihm in den letzten Jahrzehnten zugetraut zu haben scheint? Sich für die ZEIT oder den Rheinischen Merkur zu entscheiden, oder gar für beides. Bekommen die Zeitungen nicht stapelweise Leserbriefe mit Anfeindungen? Es ist im Netz einfacher, für einen breiten Kreis von Lesern zu veröffentlichen, aber das heißt doch nicht, dass es nicht vorher auch Menschen gab, die sich selbst für Intellektuelle hielten und deswegen einen Anspruch auf Beachtung und Einfluss einklagten. Ohne dass man ihnen allzuviel Aufmerksamkeit schenken musste. Vielleicht ist der Intellektuelle auch jemand, der ein Problem erkennt, dieses benennt und damit ein latentes Bedürfnis bei den Rezipienten befriedigt?